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«Wer nicht lachen kann, entdeckt nichts»

Marcel Tanner hat mehr als 35 Jahre Erfahrung in der Forschungszusammenarbeit mit Ländern des Südens. Für ihn ist klar: Ohne Flexibilität, gegenseitigen Respekt und Kontextwissen geht es nicht.

Marcel Tanner, Ordinarius für Epidemiologie und medizinische Parasitologie an der Universität Basel, war von 1997 bis 2015 Direktor des Swiss Tropical and Public Health Institute (Swiss TPH) in Basel. 1981 bis 1984 leitete er die Aussenstation des Swiss TPH in Ifakara, Tansania (heute: Ifakara Health Institute). Er trägt zwei Ehrendoktortitel der Universität Neuenburg und der Universität Brisbane. Seit 2016 präsidiert Tanner die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz.
Bild: Valérie Chételat

Marcel Tanners Bleistifthalter ist ein Land­ Rover­-Getriebeteil – ein Andenken an die grösste Reparatur, die er auf seinen For­schungsaufenthalten vornehmen musste; im April 1982 in Tansania sei das gewesen, erinnert er sich. Seit Anfang Jahr ist er pensioniert. Theoretisch. Vom Direktoren­büro des Swiss Tropical and Public Health Institute (Swiss TPH) in Basel ist er in ein kleineres umgezogen. Kunstobjekte zeugen von Arbeitsaufenthalten in Afrika, Asien und Lateinamerika. Doch Tanner begnügt sich nicht damit, Enkel zu hüten. Zu viel hat er noch vor. Und er wartet nicht auf vor­ bereitete Fragen, um von der Forschungs­zusammenarbeit zu erzählen.

MARCEL TANNER: Der Gründer unseres Instituts, Rudolf Geigy, begann 1944 in Tan­sania nicht zu medizinischen, sondern zu ethnologischen Fragen zu arbeiten. Aber wenn man schaut, wie Menschen leben, kommt man eben bald einmal auf das The­ma Gesundheit. Unser Ansatz war immer: Wir iegen nicht mit einer fertigen Frage­stellung ein, sondern entwickeln die For­schungsfragen gemeinsam mit den Leuten vor Ort. Man braucht gute Ortskenntnisse; no roots, no fruits.

Hatten Sie nicht auch Ihre fertige Fragestellung im Gepäck, als Sie 1979 erstmals nach Afrika kamen?
Das war ein Schlüsselerlebnis: Wir suchten in Kamerun nach einem neuen Diagnos­tikum für die Flussblindheit, eine Wurm­erkrankung. Wir gingen in die Dörfer, wo befallene Leute lebten, und behandelten sie. Da stellten wir fest, dass diese Leute noch ganz andere Probleme und Anliegen hatten als diese Würmer und dass es nicht sinnvoll ist, nur eine Krankheit isoliert an­zugehen. Nach dieser Erfahrung wechsel­te ich von einer Immunologie, die sich in Afrika ihr Material holt, zu Epidemiologie und Public Health, die sich für Systemkon­texte interessieren und in Partnerschaften Grundlagen und Lösungen erforschen – im Sinne eines gegenseitigen Lernens für die Veränderung.

Haben viele Forscher diese Offenheit, ihre Fragestellung zu ändern?
Ich schicke meine Master­ und Doktoran­denstudenten wenn immer möglich ins Feld hinaus. Es muss nicht in Afrika sein: Auch wenn es im Lützeltal Parasiten im Trinkwasser hat, muss man mit allen mög­lichen Betroffenen zusammenarbeiten. Wenn man die Leute hinaus schickt und arbeiten lässt, können sie ihre Fragestel­lung den Umständen anpassen. Aber mit den Geldgebern ist das tatsächlich nicht immer einfach. Wer Fördergelder vergibt, hat eben meist keinen «Dreck an den Schu­hen» und versteht den Kontext kaum.

Aber Afrika ist ja schon nicht das Lützeltal?
Interkulturelle Zusammenarbeit entsteht, wenn man zusammenarbeitet. Da braucht es keine Seminare über Interkulturalität und keine Feel­-me­-touch­-me-­Workshops. Damit tötet man nur die Freude an der Ar­beit. Aber die Freude ist entscheidend. Um zu forschen, müssen Sie neugierig sein. Sie müssen Ihre Erkenntnisse gern mit an­ dern teilen, und Sie müssen etwas bewir­ken wollen. Wenn man in einem Gebiet mit einer Million Einwohnern dazu beiträgt, die Kindersterblichkeit um ein Drittel zu senken, weiss man, was man getan hat. Wer keine Freude hat, nur die Probleme sieht und nicht lachen kann, wird nichts entdecken. Und die Freude hilft dann auch, wenn es mal nicht rund läuft und man einen ganzen Tag rumrennt, um Diesel für den Generator des Labors zu finden. In sol­chen Situationen lernt man viel.

Wenn Sie gelernt haben, im Busch Diesel aufzutreiben, nützt Ihnen das in der Schweiz nichts.
Doch, denn man lernt, sich selbst zu hel­fen und mit operationellen Krisen umzu­gehen. Heute wollen viele Schweizer, bevor sie nach Afrika gehen, alle Eventualitäten geklärt haben, wollen wissen, wer ihnen die Pampers für ihre Kinder liefert – statt einfach zu gehen und sich vor Ort zu orga­nisieren.

Das tönt alles gut. Aber es gibt auch kulturbedingte Schwierigkeiten.
Und wie, im Kleinen wie im Grossen! Die afrikanische Kultur funktioniert bouche à l’oreille, da antwortet man nicht immer sofort. Wenn ich auf meine E­-Mails keine Antwort bekomme und keine Kommuni­kation zustande kommt, ist das schon läs­tig. Manchmal scheitert man an den poli­tischen Realitäten. Im Tschad haben wir ein umfassendes Programm mit Nomaden. Wir waren auf gutem Weg eines institutio­nellen Aufbaus. Wir erwarteten, dass die Regierung sich beteiligt, auch finanziell. Aber dann kam nichts. Zumindest im ge­planten Umfang wird aus dem Programm nach acht Jahren Planung mit allen Betei­ligten nichts.

Gibt es in armen Ländern genug gut ausgebildete Leute?
Die Ausbildung ist das grösste Problem. Wir haben oft Studenten aus armen Ländern, die sind gut auf ihrem Fachgebiet, aber sie verfügen nicht über ein breites Wissen. Dem kann man abhelfen, aber die Disser­tation dauert dann halt länger, und der Geldgeber muss bereit sein, länger zu zah­len. Aber es lohnt sich: Leute gut ausbilden ist der grösste «Impact», den es gibt – viel wichtiger als Impact-­Factor­ und H­-Index­ Selbstglorifizierungen.

Die Wissenschaft mit ihren Methoden und kulturellen Codes ist in unserem Kulturkreis entstanden. Ist da nicht jede wissenschaftliche Zusammenarbeit von vornherein asymmetrisch?
Absolut. Es fragt sich einfach, wie man da­mit umgeht. Unsere geheiligten wissen­schaftlichen Standards sind ja auch nicht über alle Zweifel erhaben, denken Sie an die Probleme mit der Peer­-Review, an die nutzlosen Impact Factors... Wenn man ein­ander zuhört, können gemeinsame Codes entstehen. Das dauert aber unter Umstän­den Generationen, deshalb ist langfristiges Engagement so wichtig. Und dazu braucht es Respekt; ohne Respekt gibt es auch kein Vertrauen. Das schlimmste sind westliche Consultants, die keine Ortskenntnisse ha­ben, aber immer alles schon wissen.

Warum braucht es ein Tropeninstitut in der Schweiz? Können sich die Betroffenen nicht selber helfen?
Das Wort «helfen» muss man gleich verges­sen. Als die Bildungs-­, Forschungs­- und In­novationsbotschaft 2008/2011 erstmals die Forschungszusammenarbeit mit Entwick­lungsländern enthielt, sagten Kritiker: Man soll nicht aus dem Forschungsbudget Entwicklungshilfe finanzieren. Aber dar­um geht es nicht. Wenn Sie sehen, wie ein Land pro Einwohner und Jahr 15 Franken für das Gesundheitswesen zur Verfügung hat, dann lernen Sie auch Wertvolles für das hiesige Gesundheitswesen mit seinen 7000 Franken pro Kopf. Nicht um Hilfe geht es, sondern um das gemeinsame Lernen durch comparing and sharing.

Wird Ihre Botschaft gehört?
Ja. Ich begleitete beispielsweise kürzlich eine Gruppe Parlamentarier nach Tansania, von den Grünen bis zur BDP. Wir gingen zu den Projekten, nicht nur in «high level meetings». Das überzeugte auch die Skepti­ker vom Sinn unserer Arbeit und vom Wert des partnerschaftlichen Vorgehens.

Marcel Hänggi, freier Wissenschaftsjournalist.

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